Ich hatte die Kamera mit einem Glas Wasser
hinuntergespült. Während meiner Fahrt zur Wettercompany brachte ein künstlicher
Strömungskanal in meinem Körper die Kamera sicher an ihren Bestimmungsort. Sie
dockte von innen in meiner rechten Handfläche an. Die Kamera hatte die
gallertartige Konsistenz einer Qualle. Wir nannten unsere Erfindung deshalb
auch Jellyfish. Die ganze Apparatur war so klein und unauffällig, dass sie bei allen
Sicherheitskontrollen bisher unentdeckt blieb. Die Auflagen, das Startup ich-bin-das-wetter.com
besichtigen zu können, waren sehr hoch. Ich musste einen dreistufigen
Sicherheits-Check durchlaufen. Und eine sechsstellige Summe hinterlegen. Die
ich zurückbekam, wenn auch sechs Monate nach meinem Besuch keine Informationen
über das Unternehmen durchgesickert waren, die nachweislich auf mich zurückgingen.
Es war streng untersagt, während der Besichtigung Notizen oder Aufnahmen
jeglicher Art zu machen. Deshalb kam Jellyfish zum Einsatz. Die Veranstaltung,
zu der ich fuhr, war ein Event für potentielle Aktionäre. Denn das Startup plante
seinen Börsengang. Die Firmengebäude lagen am Stadtrand. In Alleinlage. Im
Umkreis nur Felder. Als ich vom Parkplatz zum Haupteingang ging, fiel mir auf,
wie sandig es hier war. Und ich spürte eine trockene Wärme, die sich so ganz anders
anfühlte, als die herbstliche Kühle im Innern der Stadt. Im Eingangsbereich
stand ein Bodyscanner. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das Sicherheitspersonal
begrüßte mich freundlich. Ich betrat den Scanner. Jellyfish blieb unentdeckt. Nachdem
ich alle persönlichen Gegenstände abgegeben und die Formalitäten erledigt
hatte, wurde ich in ein Atrium geleitet, wo auf schwarzen Ledersesseln bereits
mehrere Personen Platz genommen hatten. Das war also die Gruppe. Ich setzte
mich. Gerade trafen noch zwei weitere Besucher ein. Dann wurde die Tür zum
Eingangsbereich geschlossen. Und während ich vorgab, in einer Broschüre zu
blättern, nahm ich die Runde in Augenschein. Wir waren zu zwölft. Sieben Männer
und fünf Frauen. Zwischen Mitte vierzig und Anfang sechzig. Alle machten einen
gepflegten Eindruck und waren gut gekleidet. In einer der Sitzecken unterhielt
man sich schon angeregt. Dann wurden wir ins Auditorium gebeten. Der Gang
dorthin war von zahlreichen Plasmabildschirmen gesäumt. Im Vorbeigehen sah ich
Schneestürme. Gewitter. Sommerregen. Strahlenden Sonnenschein. Und auch Nebelbänke.
Dann betraten wir den Vortragssaal. Und da standen sie, die beiden Gründer:
Zwei schöne Menschen. Makellos. Mit ganz weißen Zähnen. Dr. Anne Lehmbruck. Und
Dr. Kai Tauber. Studium der Biologie. Astrophysik. Und Meteorologie. Mit
Stationen in Cambridge und Stanford. Was die Imagebroschüre nicht aufführte,
waren längere Arbeitsaufenthalte in China und einigen afrikanischen Ländern.
Die Schwerpunkte der Firmen: Biotechnologie und Nanotechnologie. Meine Quellen
waren zuverlässig. Ich sah mich um: Schon nach wenigen Sätzen hatte Lehmbruck
die Gruppe. Hier in diesem Gebäude – so die Botschaft – fand gerade eine
bahnbrechende Umwälzung statt. Vergleichbar mit der bemannten Raumfahrt oder
der Erfindung des Computers. Und wir konnten Teil davon sein. Wir, ich selbst,
war nur wenige Klicks davon entfernt, das Wetter mitzubestimmen. Es zu machen. Vielmehr:
Das Wetter zu sein. Wir hier, die Menschen in diesem Raum, waren das Wetter.
Und würden es fortan sein. Nun bat uns Tauber, uns mit den Touchscreens
vertraut zu machen, die sich in den Armlehnen unserer Stühle befanden. Wir
konnten in drei Kategorien unser Wunschwetter für die nächsten zwei Stunden
wählen: Bewölkungsgrad, Temperatur, Windgeschwindigkeit. Dann wurde aus unseren
Eingaben ein Mittelwert berechnet, der sogleich vorne auf der Leinwand erschien:
Bewölkungsgrad 5%, Temperatur 24 Grad, Windgeschwindigkeit 8 km/h. Das waren
ungewöhnliche Werte für einen Tag Ende Oktober. Tauber fuhr fort: „Wir haben
jetzt kurz vor zwei. Und wenn wir in zwei Minuten in die Innenstadt schalten, dann
wird sich das Wetter dort geändert haben. Dann werden unsere Familien und
Freunde dort sonnige Wetterverhältnisse haben. Und das bleibt dann erstmal
konstant. Für eine Stunde und zweiundvierzig Minuten.“ Lehmbruck übernahm.
„Danke Kai. Ja und nach diesen knapp eindreiviertel Stunden wird sich der
Himmel wieder bewölken. Aus praktischen Gründen. Das hat in erster Linie mit
dem Feierabendverkehr zu tun. Von unseren Testusern wird immer wieder der
Wunsch geäußert, von der Sonne, die dann ja schon recht tief steht um diese
Jahreszeit, beim Autofahren nicht geblendet zu werden. Das verringert in der
Tat die Unfallgefahr. Und da ist eine abgeblendete Sonne erwünscht. Und auch
sinnvoll. Das ist der Mehrheitswunsch unserer Testcommunity. Und dann machen
wir das auch so.“ Und schon erreichten uns die Bilder aus der Innenstadt. Die
Sonne schien. Die Menschen zogen ihre Mäntel aus. Und setzten sich auf
Parkbänke. Einige Cafés stellten sogar Stühle heraus. Lehmbruck ging vorne
langsam auf und ab. „Im Moment durchlaufen wir mit unseren Testusern die
Beta-Phase. Das ist für die User und uns eine ganz wichtige Experimentierphase.
Um einfach mal zu gucken, was geht. Was möglich ist. Welche Features habe ich? Und
wie lässt sich das alles steuern und bedienen? Das hat ja etwas sehr
Spielerisches. Im Moment überwiegt bei dem nasskalten Herbstwetter verständlicherweise
der Wunsch nach wärmeren Temperaturen. Die gewählte Durchschnittstemperatur
liegt zurzeit bei 26 Grad. Und das bei wolkenfreiem Himmel. Es wird schwierig
sein, dies jetzt dauerhaft so beizubehalten. Oder durchsetzen. Es kamen auch
schon erste Usereinwände, was den Regen anbetrifft.“ Jetzt war es wieder Tauber,
der zu uns sprach: „Wir nehmen diese Punkte natürlich sehr ernst. Was wären wir
ohne die Feedbacks unserer Community. Und in der Tat müssen wir kritisch
schauen, wie sich unser Wetter auf die heimische Landwirtschaft auswirkt. Auf
die Erträge. Und so weiter. Und hier zeigt sich, um was es uns geht. Um wie
viel es uns geht. Hier offenbart sich, was ich-bin-das-wetter.com im
Kern auszeichnet: Wir machen Ernst mit Basisdemokratie und bürgerschaftlichem
Engagement. Uns geht es um echte Partizipation. Um Achtsamkeit. Und um
Teilhabe. Wir stehen für vorausschauendes Denken und Handeln. Jeder, der sich
verantwortlich fühlt, hat durch uns die Möglichkeit, für sich zu reflektieren:
Wie möchte ich mich strategisch positionieren? In Bezug auf das Wetter. Wir
unterstützen mit unserem Knowhow, damit Sie alle Faktoren und Variablen kennen,
um Ihre Entscheidung fundiert zu treffen. Das schult natürlich ungemein. Und
wird auch unser bisheriges Denken in eine ganz neue Richtung bringen. Wir
stärken unser Verantwortungsbewusstsein. Und fühlen uns verantwortlich für
komplexe Phänomene, weil wir endlich verstehen, wie fein die Dinge
ineinandergreifen. Und dass dabei viele Faktoren zu beachten sind. Da können
wir alle von profitieren. Und gemeinsam lernen.“ Es wurde unruhig im Raum.
Einige Teilnehmer rutschten auf ihren Stühlen hin und her. Der Herr mit dem
feingeschnittenen Gesicht vor mir murmelte etwas von Manipulation. Schon wurde
es wieder heller im Raum. Und man bat uns zur nächsten Station: Der
Wetterzentrifuge. Die Zentrifuge befand sich in einem Kühlturm. Hier also wurde
das Wetter gemacht. Und obwohl wir durch Panzerglas vom Innern des Turms
isoliert waren, bat man uns, weiße Schutzanzüge zu tragen. Beim Umziehen fiel mir auf, dass wir nur noch
zu elft waren. Der murmelnde Herr fehlte. Ein Assistent hatte vor der
Panzerglasscheibe einen Tisch aufgebaut. Tauber nahm nun eine der zahlreichen
Kapseln in die Hand, die nach Farbe und Größe geordnet auf dem Tisch lagen: „Was
Sie hier sehen, sind verschiedene Wetterphänomene. Oder Zutaten. In
Tablettenform. Und eins davon greife ich jetzt mal raus. Weil es für unsere
Arbeit so außerordentlich wichtig ist. Das ist diese Tablette hier. Diese etwas
größere Kapsel. Das ist Lithium. Sie kennen Lithium von Batterien. Einige von
Ihnen werden es auch als Medikament kennen. Das eingesetzt wird zur Stabilisierung.
Beispielsweise bei Menschen mit einer bipolaren Störung – Menschen also, die
manisch-depressiv sind. Hier geht es um die Stabilisierung der Stimmung. Um das
Verhindern von Stimmungsausschlägen in ein Extrem. Es wirkt ausgleichend auf
die Neurotransmitter. Alles im Lot. Und unsere Idee war dann zu sagen: OK, wenn
sich das Lithium so stabilisierend auf die menschliche Psyche auswirkt, dann
müsste das doch auch in Bezug auf das Wetter funktionieren: Einfach eine
stabile Wetterlage zu erzeugen. Und das hat sich auch bewahrheitet. Denn es
funktioniert.“ Wir blickten jetzt in die Zentrifuge, wo elektronische
Greifhände mehrere Kapseln auf eine gläserne Arbeitsplatte legten und dann
zermahlten. Dann setzte die Rotation ein bis schließlich eine dichte Staubwolke
entstand, die sogleich über Lüftungsschächte nach außen entwich. Die Schächte
brummten. Ich sah Lehmbruck an, die mit geschlossenen Augen dastand, als würde
sie genussvoll einem Musikstück lauschen. Schließlich öffnete sie ihre Augen
und sah in die Runde. „So klingt Wetter“, sagte sie versonnen. „Oh, ich liebe
es.“ Und sie lachte dabei. Draußen ging ein Graupelschauer nieder. Jetzt schaltete
sich Tauber wieder ein. Auch er lachte. „Sehen Sie. Auch das können wir:
Voodoo. Ich schicke dir Graupel. Eis. Und Sturm.“ Wir verließen die
Wetterzentrifuge und wurden in einen anderen Gebäudeteil geführt. In den Gängen
waren viele Sicherheitsleute unterwegs. Dann passierten wir eine Schleuse und
standen schließlich vor einer deckenhohen Tresortür. Lehmbruck bat uns, einen
Halbkreis zu bilden. „Hinter dieser Tür befindet sich der Heilige Gral. Er ist
das Kapital und Herzstück unseres Unternehmens. Im Tresorraum gibt es eine
Vielzahl an Schubladen. Sie sind nochmals mit einer Spezialtechnik gesichert.
Dieser Raum ist feuerfest. Wasserdicht. Erdbebensicher. Und immun gegen
nukleare Angriffe. In den Schubladen befinden sich die Zugangscodes zu den Wetterphänomenen
anderer Staaten. Momentan sind wir im Besitz von 87 Codes. Das heißt, wir haben
Zugriff auf 87 Länder. Ganz exklusiv. Nur
wir verfügen über die Technik, diese Codes zu entschlüsseln. Und theoretisch
das Wetter in einem bestimmten Land zu kreieren. Denken Sie weiter. Stellen Sie
sich vor, eine terroristische Organisation käme in Besitz der Zugangscodes.
Feindliche Systeme könnten das Wetter eines Staats manipulieren. Wochenlang nur
Starkregen. Wochenlang gleißender Sonnenschein. Bei 45 Grad. Das kann
Überflutungen hervorrufen. Das kann Dürren hervorrufen. Hungerkatastrophen. Sie
setzen mit Ihrer Wettermanipulation Fluchtbewegungen in Gang. Und bedienen
damit in anderen Staaten den Angst- und Abwehrreflex des 21. Jahrhunderts. Mit
den Wettercodes haben Sie die Macht, ein Land zu zerstören. Von innen. Und
außen. Sie machen es kaputt. In nur wenigen Wochen. Und da liegt unser ganz
besonderes Augenmerk. Das ist uns eine Herzensangelegenheit: Die Codes zu
schützen. Wie den Heiligen Gral. Die Kriege von morgen werden Wetterkriege
sein. Es liegt in unserer Hand, uns davor zu bewahren. Deshalb glauben wir an
unsere Mission, das Wetter zu revolutionieren.“ Unser Rundgang führte uns jetzt
zurück in das Auditorium. Wir nahmen wieder Platz. Und uns wurden Säfte aus
regionalem Anbau gereicht. Tauber wollte uns zum Abschluss das Kundenmodell von
ich-bin-das-wetter.com vorstellen. „Als Basic-Client geben Sie bis 22.00
Uhr Ihr Wettervotum für den Folgetag ab. Wir stellen Ihnen dafür eine App zur
Verfügung. Aus der Gesamtheit der Stimmen wird das Wetter berechnet. Und in
unserer Zentrifuge entsprechend aufbereitet. Dann erfolgt die Freisetzung, der
Sie ja vorhin beiwohnen durften. Als
Advanced-Client zählt Ihr Votum grundsätzlich doppelt. Sie nehmen so also in
besonderer Weise Einfluss auf unser Wettergeschehen. Und dem Premium-Client
sind hinsichtlich seiner Phantasie und Kreativität keinerlei Grenzen gesetzt.
Wir arbeiten mit Hochdruck daran, Ihnen Wetterfeatures anzubieten, mit denen
Sie Wetterphänomene kreieren können, die es so bisher noch gar nicht gibt. Das
macht den Premium-Client-Status so spannend. Werden Sie zum Macher farbiger Niederschläge.
Erschaffen Sie Hagelkörner mit kleinen Gimmicks darin. Oder lassen Sie es im
Sommer auf Ihrer Gartenparty zur Abkühlung einfach mal schneien. Spielen Sie!
Bringen Sie Neues in die Welt!“ Dr. Lehmbruck schaute uns euphorisch an. „Und unser Gold-Client wird in nicht allzu
ferner Zukunft sein eigenes Mikroklima erschaffen. In einem von ihm definierten
Bereich. Das kann das eigene Grundstück sein. Der Sportplatz, auf dem gerade
ein Fußballturnier läuft. Der Lieblingsstrand in südlichen Gefilden. Oder das
Dorf, in dem Sie wohnen. Die Kosten für Sie als User berechnen sich pro
Quadratmeter. Das Wetter, meine Damen und Herren, ist einfach kein Zufall
mehr.“ Alle klatschten. Tauber bat uns, unser Votum abzugeben. Für das Wetter.
To go. Wir hatten abgestimmt. 22 Grad. Sonnig. Schwacher Wind aus Südwest. Ich
verließ das Gebäude. Alles stimmte. Hier draußen. Das perfekte Wetter, um meinen
Bericht zu schreiben.
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