Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Donnerstag, 29. Juni 2017

Versteckte Figuren



Ich vermutete sie immer in der Truhe. Die neben dem Kamin stand. In den ganzen Jahren öffnete ich sie kein einziges Mal. Oft legte ich Dinge darauf. Zeitschriften. Oder Bücher. Manchmal stellte ich auch etwas ab. Auf ihr. Wenn mir das, was ich trug, zu schwer erschien. Ich lebte allein. In diesem Haus. In meinem Haus. Aber ich war nicht allein. Denn es war bevölkert. Von Figuren. Die auch laufen und sprechen konnten. In einer mir fremden Sprache. Ich wusste nicht, ob sie mich bemerkten. Mich sehen oder hören konnten. Ich sah und hörte sie jetzt gut. Das war nicht immer so. Am Anfang waren sie Schemen. Die mich erschreckten. In meinem eigenen Haus. Dann zeigten sich die Figuren deutlicher. Ihre Stimmen wurden klarer. Irgendwann nahm ich sie als etwas an, das fortan dazugehörte. Zu meinem Haus. Und obwohl ich ihre Sprache nicht verstand (im wortwörtlichen Sinn), war da immer eine Ahnung von Bedeutung, wenn ich ihren Stimmen, ihren Gesprächen lauschte. Ich hörte Freude heraus. Sorge. Und manchmal auch Traurigkeit. Was ich nie sah, waren ihre Gesichter. Es waren ihre Umrisse, die ich mit der Zeit immer klarer erkannte. Aber das genügte mir. Für mein Leben. Im Haus. Die Figuren verschwanden manchmal. Und ihr Auftreten folgte keinem Plan. Wenn sie nicht da waren, vermutete ich sie in der Truhe. Neben dem Kamin. Und dann regnete es. Drei Tage. Und drei Nächte lang. Die Figuren zeigten sich nicht. Während des Regens. Und ich ging unruhig durch mein Haus. Weil ich sie vermisste. Ich spürte immer deutlicher, was mich umschlich. Und was ich umschlich. Es war die Truhe. Und als ich sie öffnete, war da ich.   

Halblaut


Ich bewege mich jetzt. Nur noch auf Leitern. Oder steige Treppen hinauf. Denn zwischen jeder Sprosse, jeder Stufe tönt etwas. Ich kenne Fließlaute. Reibelaute. Schwinglaute. Und Zitterlaute. Was sich hier in den Zwischenräumen befindet, die ich mit meinen Füßen überschreite, sind Halblaute. Die Schallwelle, die aus diesem Zwischenraum kommt, ist halbiert. Wenn ich einen Halblaut höre, öffnet sich etwas. In mir. Und der halbe Laut tritt ein. Und durchläuft meinen ganzen Körper auf der Suche nach einem phonetischen Alphabet. Sodass er sich ergänzen kann. Zu etwas Ganzem. Ein neuer Klang. In meinem Körper.

Mittwoch, 28. Juni 2017

22.07 Uhr



Die Zeit hakt. An diesem Punkt. Und ein Geräusch ertönt. Jeden Abend. Um diese Zeit. Egal, wo ich bin. Ich glaube nicht, dass andere bemerken, was mit der Zeit geschieht. Sie steht dann ganz still. Für diesen Moment. Die Zeiger bewegen sich nicht weiter. Die Ziffern schlagen nicht mehr um. Das gilt für jede Uhr, die ich um 22.07 Uhr betrachte. Ich nutze diesen Stillstand. Und gleite hinein. In die Zeit. Die Null ist mein Eingang. Manchmal gibt es auch einen Zugang zwischen den beiden Zweien. Habe ich diesen Eingang oder Zugang passiert, bin ich hinter der Zeit. Ich habe sie dann im Rücken. Und gehe ihr gleichzeitig entgegen. Ich weiß jetzt, dass die Zeit orange ist. Ein helles Orange. Und wenn ich auf die Zeit zugehe, bin ich umhüllt von dieser Farbe. Ich habe dann das Gefühl, durch einen Tunnel aus Orange zu gehen. Auf meinem Weg kommen mir Menschen entgegen. Und Wörter. Die ich zusammensetze. Zu Schlagwörtern. Des Kommenden. Es ist, als würde ich auf die Titelseite einer Zeitung schauen. Manches, was ich lese, freut mich. Anderes versetzt mich in Unruhe. Ich weiß, wer das Rennen macht. Das Spiel verliert. Vielleicht auch zur Unzeit. Wenn ich wieder aus der Zeit hervortrete (durch die Null oder zwischen den beiden Zweien), bin ich zeitlos. Geworden. Und ich warte. Wie jeden Tag. Auf den Moment: 22.07 Uhr. Vor einer Uhr. Die ich jetzt noch gar nicht kenne.

Freitag, 23. Juni 2017

Future Island



Zunächst fällt es mir schwer, die Insel zu finden. Sie ist aus einem Material, das sich dem Sehen entzieht. Aber das erfahre ich erst später. Meine Navigationsgeräte arbeiten einwandfrei. Und so steige ich einfach aus, als sie mir das Ziel anzeigen. Ich betrete die Insel. Und schon beim ersten Bodenkontakt gibt sie sich mir zu erkennen. Es ist allgemein bekannt, dass es die Insel gibt. Aber es lassen sich keine Skizzen oder Fotos von ihr finden. So ist die Insel der erste Ort, den ich unvorbereitet besuche. Ich habe mir kein Bild gemacht. Obwohl ich weiß, dass schon Menschen vor mir die Insel besucht haben, gibt es keinerlei Erzählungen oder Berichte über sie. Sie taucht nicht auf. Nirgends. Ich mache meine ersten Schritte auf der Insel, ohne eine Vorstellung von ihren Ausmaßen zu haben. Ich weiß nicht, welche Pflanzen es hier gibt. Welche Tiere sie beheimatet. Ob Städte existieren. Wie viele Menschen hier leben. Ob überhaupt. Welche Sprache man spricht. Welche Zahlungsmittel akzeptiert werden. Noch einmal mache ich mir bewusst, dass ich nichts über sie weiß. Ich gehe. Und folge einer Straße, die einspurig ist. Links und rechts der Straße sind Wiesen. Soweit das Auge reicht. Ich blicke auf ein Grün, das ganz augenscheinlich erst kürzlich gemäht wurde. Es reicht bis zum Horizont. Und ich gehe weiter. Ich folge dieser einen Straße. Und dann taucht rechts von mir eine Plakatwand auf. Ich bleibe davor stehen. Und betrachte das Bild. Das ich bin. Das Bild zeigt genau diese Situation. Ich befinde mich auf einer Straße. In einer Graslandschaft. Ich stehe vor einer Plakatwand. Auf der ich zu sehen bin. Und ich trage darauf auch genau die Kleidung, die ich jetzt trage. Ich gehe. Weiter. Nach einer Stunde taucht wieder eine Plakatwand vor mir auf. Ich bleibe stehen. Und es ist ähnlich. Und ich sage ähnlich, weil auf dem Bild, das ich jetzt sehe, meine Haare länger sind. Und ich älter bin. Nicht viel. Vielleicht fünf Jahre. Und nach einer weiteren Stunde stehe ich erneut vor einer Plakatwand. Auch das bin ich. Die Haare sind jetzt kurz. Sie haben eine andere Farbe. Ich trage keine Brille. Und ich bin siebzig. Mindestens siebzig. Dann sehe ich, dass die Person auf der Plakatwand, die ja ich bin, ihre Lippen bewegt. Es ist jetzt ganz still um mich. Und ich lausche. Der Stimme. Die ja meine eigene ist. Und zu mir spricht: Was kommen wird, bin ich.

Montag, 19. Juni 2017

Das Meer über mir



Ich laufe. Auf Grund. Der Boden ist weich. Und sandig. Manchmal fasst eine Alge nach meinem Fuß. Dann bleibe ich kurz stehen. Weil sie mich sanft hält. Meine Befreiung jedoch ist ein Leichtes. Diese kurzen Momente des Innehaltens genieße ich. Sehr. Ohne die Algen käme ich nie zum Stillstand. Mein Laufen, mein Gehen währt immer. Ich habe alle Meere durchlaufen. Und immer ist das Meer über mir. Denn ich laufe ja auf Grund. Ich mag die verborgenen Orte. Hier unten. Es sind nur noch ein paar Fische. In diesen Tiefen. Die mich begleiten. Was ich auch mag, sind Wracks. Die ich nahezu täglich finde. Ich betrete die Schiffe. Und sehe mich um. Dabei belasse ich alles so, wie ich es vorgefunden habe. Nur das Sehen ist mir wichtig. Ich wüsste sowieso nicht, wohin mit den Dingen. Ich durchwandere die Schiffe. Und sehe mir die Frachträume an. Die Kabinen. Kajüten. Maschinenräume. Manchmal gibt es Speisesäle. Dort finde ich Teller. Gläser. Besteck. Manchmal sitzen auch Menschen an den Tischen. Sie unterhalten sich. Und ich lausche ihrem Gespräch. Kurz vor dem Untergang. Heute zieht es mich Richtung Island. Ich möchte die Kontinentalspalte durchschreiten. Das Wasser ist hier ganz klar. Und meine Augen reichen weit. Und erfassen alles. Morgen werde ich mich Richtung Pazifik aufmachen. Ich habe Sehnsucht nach einem bestimmten Fisch. Nach seiner Farbe. Und immer wird das Meer über mir sein. Und ich glücklich. Am Boden.

Mittwoch, 14. Juni 2017

Die Mitteilung



Als ich den Satz las, lehnte ich mich zurück. Und ließ mich noch tiefer in meinen Sessel fallen. Ich saß in der Eingangshalle eines Hotels. In einer Großstadt. Auf einem anderen Kontinent. Eben noch hatte ich in einer Tageszeitung gelesen. Um mir ein Bild von den hiesigen Verhältnissen zu machen. Dann stand ein Page vor mir. In einer roten Uniform. Und überreichte mir ein Kuvert. Das auf einem silbernen Tablett lag. Ich öffnete den Umschlag. Darin fand ich eine weiße Karte, bei der mir gleich die Schwere des Papiers auffiel. Der Satz, den ich nun mehrmals las, war mit einer Feder geschrieben. Die Schrift hatte einen eigentümlichen Schwung und wirkte routiniert. Sodass ich hinter der Mitteilung jemanden vermutete, der häufig und viel schrieb. Mit der Hand. Mit einer Feder in der Hand. Ich sah mich um. Und musterte die anderen Gäste in der Halle. Ich versuchte, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Nachricht und einem der Anwesenden. Aber da war niemand. Niemand, der wiederum auch mich in Augenschein nahm. Um meine Reaktion zu beobachten. Alle schienen beschäftigt. Oder vertieft. In eigene Dinge. Doch wer war derjenige, der mir die Nachricht brachte? Ich ging zur Rezeption. Und erkundigte mich nach dem Pagen. Der ja erst vor wenigen Minuten an mich herangetreten war. Man könne mir nicht weiterhelfen. Nachrichten würden in diesem Hause nur elektronisch übermittelt. Direkt auf den Bildschirm. Im Zimmer. Ich überlegte einen Moment. Und sah auf die Karte. Um den Satz ein weiteres Mal zu lesen. Dann sprach ich ihn laut. In den Raum. Und nichts blieb. Was es war.