Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Dienstag, 30. Mai 2017

Wasserpalais



Das Gebäude ist aus geschmolzenem Eis. Das erkenne ich an der Farbe. Die leicht bläulich ist. Das Palais rauscht. Wenn man sich ihm nähert. Es fließt. Und verändert seine Form. Zu jeder vollen Stunde. Es bleibt dabei immer ein Palais. Aber es ist ein Palais, das viele Palais in sich trägt. Und sich neu gestaltet. Immerfort. Aus sich selbst heraus. Ich bin hier, um es zu erkunden. Von innen. Noch beobachte ich das Palais. Von außen. Denn es ist kurz vor 11. Und es wird sich gleich wieder verändern. Nachdem dies geschehen ist (wie zu jeder vollen Stunde), bewege ich mich auf den Eingang zu. Jetzt habe ich eine Stunde Zeit. Ich gehe durch strömendes Wasser. Das von oben kommt. Ich habe das Gefühl, einen Wasserfall zu durchschreiten. Dahinter ist es ganz still. Und ich sehe Uhren. Es sind Standuhren. Die alle gleich aussehen. Aber unterschiedliche Zeiten anzeigen. Ich spüre, dass in den Uhren etwas ist. Noch möchte ich mich ihnen nicht nähern. Deshalb gehe ich nach links. Und stehe an einem See. Ich nehme das Boot. Das am Steg liegt. Und fahre zum gegenüberliegenden Ufer. Auf ein Gebäude zu. Jetzt sehe ich, dass es das Wasserpalais ist. Ich lege an. Und nähere mich ihm. Hier ist die Tür fest verschlossen. Und auch nachdem ich einmal um das Palais herum gegangen bin, finde ich keinen Zugang. Ich stelle mich vor ein Fenster. Der Vorhang ist leicht geöffnet. Sodass ich etwas sehen kann. Auch hier gibt es Standuhren. Dann betritt jemand den Raum (durch die gegenüberliegende Tür). Das bin ich. Ich öffne eine Uhr. Und nehme etwas heraus. Es ist eine Schneekugel. Ich weiß (am Fenster stehend), was in der Kugel ist: Das Wasserpalais. Der See. Das Boot. Die Standuhren. Mit den Schneekugeln. Und ich. Ich nehme die Kugel. Und lasse sie auf den Boden fallen. Auf den Boden. Ich sehe, dass sie ausläuft. Ich gehe zu den anderen Uhren. Und nehme die Schneekugeln heraus. Auch sie lasse ich auf den Boden fallen. Wo jetzt Wasser ist. Das mehr wird. Das Eis schmilzt. Das Palais schmilzt. Es rauscht. Und ich schließe. Den Vorhang.

Samstag, 27. Mai 2017

Nachtfunke



Seit Tagen ist es hell. Es ist ein gleichbleibendes Licht. Und wir wissen nicht, woher es kommt. Wir verändern uns. Und unsere Häuser. Und alle Orte und Plätze, an denen wir zusammenkommen. Wir verändern uns. Vielmehr: Es ist das Licht, das uns verändert. Wir entfernen Vorhänge. Und Jalousien. Wir beginnen, die Dächer abzudecken. Sodass es noch heller wird. Wir leben draußen. Wir schlafen draußen. Im Licht. Wir arbeiten hier. Die Helligkeit verändert unsere Sprache. Sie ist klarer geworden. Lichter. Und leichter. Trotzdem trägt sie uns. Weiter. Manchmal sehen wir Funken. Das sind die Funken. Der Nacht. Und wir wissen: Wenn sie sich verdichten, nimmt das Licht wieder ab. Deshalb haben wir Netze. Mit denen wir die Funken fangen. Und sie dann in eine leere Halle setzen. Am Rand der Stadt. Die Funken bewegen sich wie Falter. Und wir mögen ihr samtiges Aussehen. Und ihren Flügelschlag. Von dem etwas Kühles ausgeht. Wie ein Hauch. Zu jeder zweiten Stunde besuchen wir die Nachtfunken. Und bringen ihnen neue Funken. So hält sich. Das Licht.      

Freitag, 26. Mai 2017

Durch einen Spiegel fallen



Die Eingangshalle des Hauses ist vollkommen leer. Und die Wände nackt. Nur an einer Stelle hängt etwas. Auf das ich jetzt zugehe. Alles liegt hier im Zwielicht. Sodass ich nicht sofort erkennen kann, was es ist. Es ist ein Spiegel. Und ich blicke hinein. Es ist, als würde ich durch ihn hindurchschauen. Auf etwas Dahinterliegendes. Das ich erahne. Aber nicht sehen kann. Dann verändert sich etwas. Es ist mein eigener Stand. Vor dem Spiegel. Der eben noch fest und sicher war. Jetzt jedoch gerate ich ins Wanken. Es fühlt sich an, als wellte sich der Boden. Unter meinen Füßen. Und obwohl es ein Marmorboden ist, auf dem ich stehe, verliere ich das Gleichgewicht. Und schon falle ich. Durch den Spiegel. Mein Fallen ist sanft. Und vollzieht sich ganz langsam. Als würde mich etwas auffangen. Auf der anderen Seite. Des Spiegels. Dort bin ich von Sand umgeben. So weit mein Auge reicht. Und ich habe keine Orientierung, in welche Richtung ich gehen soll. Ich folge der Sonne. Schon nach wenigen Minuten (und das wundert mich) stehe ich vor einer Windmühle. Sie hat mehrere Fenster. Die wie ein Ring um sie verlaufen. Und ich sehe, dass alle Fenster offen sind. Da ist kein Glas. Ich betrete die Mühle durch eines der Fenster. Und auch Innen ist Sand. Darin stehen Möbel. Und ich sehe Türen. Und Leitern. Sie erinnern mich an eine Bibliothek aus einer ganz anderen Zeit. Mit vielen Zwischengeschossen. Und Winkeln. Es riecht nach Papier. Und ich beschließe, eine der Türen zu öffnen. Die sich alle im Innern der Mühle befinden. Sodass ich keine Vorstellung habe, wo sich die dahinterliegenden Räume befinden könnten. Denn die Begrenzung durch die Außenmauern der Mühle ist klar. Ich gehe hinein. In dem Raum gibt es unzählige Spiegel. In allen Formen und Größen. Sie hängen an den Wänden. Sie stehen und lehnen an den Wänden. Sie sind an der Decke befestigt. Und selbst der Boden besteht aus Spiegeln. In der Mitte des Raums sehe ich ein Stehpult. Ich trete heran. Darauf liegt eine Karte. Eine Weltkarte. Und auf ihr sind Orte markiert. Mit blauen Punkten. Ich zähle acht. Verteilt über die ganze Welt. Und die Legende darunter weist diese Orte aus. Als besondere Stellen. Wo man durch Spiegel fällt. Und ich beginne im Kopf bereits mit meiner Reise. Zu diesen Orten. Doch dann geschieht etwas. Auf der Karte. Die acht Orte ziehen sich zusammen. Zu einem Spiegel. Der sich genau hier befindet. In diesem Raum.

Montag, 22. Mai 2017

Der Spaziergang



Heute habe ich mich für Frack und Zylinder entschieden. Da ich Taschenuhren mag, nehme ich die silberne. Sie passt zum Kostüm. Ich trage die Uhr in meiner linken Westentasche. Die Stadt, in der ich mich gerade aufhalte, besteht aus sieben Bezirken. Ich wohne im dritten. Es ist Frühjahr. Und angenehm mild. Jeder, der in dieser Stadt lebt, trägt Kostüme. Jeder, der hier lebt, hat sich zu den Kostümen bekannt. Mein Aufenthalt ist temporär. Ich bin gezielt hierhergekommen. Weil ich schreiben möchte. Über die Kostüme. So gehe ich los. Durch die Straßen. Richtung Park. Ich sehe Menschen in Tierkostümen. Ich sehe Gaukler. Zauberer. Hexen. Auf der Bank sitzt ein König. Am Teich steht ein Vampir. Dann fährt eine Kutsche vorüber. Neben mir landet ein Raumschiff. Ich warte, bis sich die Luke öffnet. Und drei Raumfahrer ihr Gefährt verlassen. Ich spreche sie an. Auf ihre Kostüme. Ich möchte wissen, warum sie sich genau für diese entschieden haben. Sie seien Raumfahrer. Und kämen gerade zurück. Von einer langen Mission. Und ihr Auftrag sei es, Kostüme zu erforschen. Und einen Bericht darüber zu schreiben. Ich gehe weiter. Und spreche den König an. Auf sein Kostüm. Da er der König sei. Antwortet er mir. Ich gehe weiter. Als sonst. Im Gebüsch ringe ich mit mir. Ich will mich zeigen. Als die, die ich bin.

Sonntag, 21. Mai 2017

Laterna Magica



Man hat uns in den Steinbruch gebeten. Der Weg dorthin führt durch einen Wald. Rechts und links stehen Bilder. Sie haben das Format einer Plakatwand. Sobald wir vor einem Bild stehen und es betrachten, beginnt die Bewegung. Es lebt jetzt. Und wir hören Töne. Die aus dem Bild kommen. Straßengeräusche. Gesprächsfetzen. Musik. Das Klappern von Geschirr. Das Pfeifen des Winds. Die tosende See. Die Bilder ähneln sich. In ihrer Machart. Sie sehen aus, als wären sie beschichtet. Mit Gelatine. Ihre Oberfläche ist gallertartig. Dadurch wirken die Bilder sehr plastisch. In ihrer Farbigkeit und Schärfe ähneln sie einer Fotografie. Wir sehen eine Stadt. Einen Innenraum. Wälder. Das Meer. Wir sind ganz vertieft. In die Betrachtung. Der Bilder. Aber dann erinnern wir uns: Wir müssen weiter. Zum Steinbruch. Wo man uns erwartet. Bei unserer Ankunft finden wir eine Tafel vor. Mit Speisen. Und Getränken. Und auf einem Beistelltisch steht ein Projektor. Wir warten. Aber es zeigt sich niemand, der uns empfängt. Jetzt beginnt der Projektor zu arbeiten. Der Steinbruch ist illuminiert. Und schon sind da die ersten Bilder. Auf der Wand. Es sind genau die Bilder, die wir auf unserem Weg hierher betrachtet haben. Dann geht ein Raunen durch den Steinbruch. Und wir sehen, dass hier etwas hineinweht. Und es sind wieder die Bilder,  die wir aus dem Wald kennen. Sie legen sich über das jeweilige Bild. Auf der Wand. Des Steinbruchs. Jedes Mal, wenn dies geschieht, verschwindet das Bild. Sodass wir eine Gleichung aufstellen. Eine Bildgleichung: 1+1=0. Treffen zwei gleiche Bilder aufeinander, neutralisieren sie sich. Dann geschieht etwas. Im Steinbruch. Wir hören ein Grollen. Das aus der Felswand kommt. Und wir verstehen, dass dort die Bilder sind. An einem Ort. Hinter der Wand. Und dann öffnet sie sich. Da ist ein Spalt. Durch den wir jetzt gehen. In die Wand. In die Bilder. Hinein. Und da sind auch wir. Vor den Bildern. Im Wald.

Donnerstag, 18. Mai 2017

Nest (eine Art von)



Die Straße, durch die ich gerade gehe, ist dicht mit Lampen bestanden. Ihre Schirme öffnen sich Richtung Himmel. Sodass auch das Licht nach oben strahlt. Ich überdenke diese Konstruktion. Denn hier unten auf der Straße ist es nahezu dunkel. Es ist nur ein schwacher Lichtkegel, der auf den Gehweg fällt. Irgendetwas bewegt sich. In den Lampen. Das sehe ich. Auch durch die Schirme. Mich erinnert es an Flügelschläge. Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht sind dort Nester. So beschließe ich, bei Tag wiederzukommen. Jetzt (bei Tageslicht) sehe ich klarer. Ich beobachte, wie etwas aus den Lampen fliegt. Und nach einiger Zeit zurückkehrt. Wie in ein Nest. Dieser Flug aus den Lampen verläuft synchron. Es ist ein gleichzeitiges Wegfliegen. Und eine gemeinsame Rückkehr. Zu den Lampen. Ich schaue auf meine Uhr. Die Ankunft erfolgt nach einhundertachtzig Sekunden. Und auch beim fünften Durchlauf bleibt diese Zeitspanne konstant: Es sind immer einhundertachtzig Sekunden. Das, was das Nest verlässt, ist kein Vogel. Es trägt kein Gefieder. Es sind Kugeln. Mit Flügeln. Daran. Die nackt sind. Von hier unten sehen sie aus wie Pergamentpapier. Wenn die beflügelten Kugeln zurückkehren, klebt etwas Hohes und Schmales an ihnen. Es sind Zeiger. Stundenzeiger. Und Minutenzeiger. Man hört, dass die Uhren hier nackter und nackter werden. In diesem Bezirk. Und dass da etwas brütet. In den Nestern. Und die Brut mit Zeigern gefüttert wird. Die Brut sitzt im Zeitnest. Dies ist die Allee der Zeitnester. Jetzt spüre ich ihn. Den Flügelschlag. Ich fliege fort. Und kehre zurück. Nach einhundertachtzig Sekunden.