Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Samstag, 29. April 2017

Bild mit Spiegel



Es gibt Menschen, die kann ich mir nur in einem Spiegel vorstellen. Sie sitzen zum Beispiel darin. Der Spiegel, an den ich gerade denke, befindet sich in einem Warenhaus. Es gibt jemanden, der regelmäßig das Kaufhaus aufsucht. Und alle Spiegel kennt. Das Geschäft hat vier Etagen. Und die Person hat vor einiger Zeit damit begonnen, alles systematisch nach Spiegeln abzusuchen. Und sich dabei langsam vom Untergeschoss in das oberste Stockwerk bewegt. Zuerst hat sie in einem Spiegel in der Lebensmittelabteilung Platz genommen. Dieser Spiegel ist die Verkleidung einer Säule. Die quaderförmig ist. Sodass der Spiegel vier Seiten hat. Die Person, die in dem Spiegel sitzt, bin ich. Und ich bewege mich langsam. Von einer Quaderseite zur nächsten. So habe ich ganz unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen. Mir scheint dieser Quaderspiegel sehr geeignet. Um in ihm zu sitzen. Die Menschen, die diese Abteilung aufsuchen, bewegen sich recht schnell. Von Reihe zu Reihe. Sie haben einen festen Plan im Kopf. Von dem, was sie suchen. Und sie wissen, wo sich die jeweiligen Regale befinden. So sind die wenigsten hier schlendernd unterwegs. Das bedeutet für mich im Spiegel, dass die Blicke der Vorübergehenden mich allenfalls streifen. Es ist ein flüchtiger Augenblick. Dem selten etwas Längeres folgt. Und selbst dann wird mein Dasein im Spiegel nicht mit Verwunderung aufgenommen. Ich beobachte auch, dass niemand außerhalb des Spiegels nach mir sucht. Nach mir. Dem Objekt. Subjekt. Der Reflexion. So sitze ich in meinem Quaderspiegel. Und kann aus vier Richtungen alles in Augenschein nehmen. Ohne ein Schein zu sein. Ganz anders ist mein Spiegeldasein in der obersten Etage. Der Bekleidungsabteilung. Hier streift man sich Dinge über. Die man dann prüfend betrachtet. Im Spiegel. Auch hier sitze ich wieder. Darin. Dieses Mal in einem Sessel. Der senffarben bezogen ist. Ich habe die Beine übereinandergeschlagen. Und sitze dabei sehr aufrecht. In meiner linken Hand halte ich ein Glas. Mit einem roten Getränk. Das nach Kirschen schmeckt. Jetzt stellt sich jemand vor den Spiegel. Und probiert einen Mantel an. Es dauert einen Moment. Bis ich dem Blick meines Gegenübers anmerke, dass ich aufgefallen bin. Und die Person sich umdreht. Und hinter sich blickt. Sie sucht zuerst den linken Teil des Raums ab. Dann den rechten. Aber sie findet mich nicht. Mich. Das Subjekt. Das Objekt. Der Reflexion. Da ist eine Verunsicherung. Im Blick. Die sich bald auch auf den Mantel bezieht. Und dann auf die Person selbst. Die Handbewegungen sollen beiläufig wirken. Das merke ich. Die Person tastet. Nach sich. Aber findet sich nicht. Ganz. Dann ändert sich etwas. Die Person geht einen Schritt. Zurück. Ihre Haltung ist jetzt sehr aufrecht. Und sie sieht mich an. Und die Person weiß jetzt, dass auch sie immer mehr Spiegel wird. Für mich. Die immer noch dort sitzt. In dem senffarbenen Sessel. Ich stehe auf. Und verlasse den Spiegel. Durch eine Tür. Irgendwann stehe ich vor dem Spiegel. Und die Person ist jetzt direkt neben mir. Unsere Mantelärmel berühren sich. Und dann verstehe ich: Sehen kann sie mich. Nur im Spiegel.

Mittwoch, 26. April 2017

Ferne

Irgendwann nahm ich ein Fernglas zur Hand. Im Wohnzimmer waren die Bücherregale mittlerweile so weit entfernt, dass ich sie nicht mehr deutlich erkennen konnte. Die Entfernung betrug vom Kamin aus bereits mehrere hundert Meter. Und vergrößerte sich. Täglich. Im Bad erging es mir ähnlich. Mein Weg von der Tür bis zur Wanne glich einem Spaziergang. Ich mochte dieses Gefühl von Weite. Die Fläche, die ich jetzt bewohnte, hatte jedoch eine Weitläufigkeit, die ich kaum mehr ermessen konnte. Aber ich hatte mein Fernglas. Manchmal nahm ich auch eine Lupe zur Hilfe. Oder ein Mikroskop. Um alles nah zu haben. Mein Tagesablauf änderte sich. Denn ich hatte jetzt weite Strecken abzulaufen. In meiner Wohnung. Der morgendliche Weg führte mich vom Schlafzimmer in die Küche. Dann ins Bad. Von dort ins Wohnzimmer. Und zurück ins Schlafzimmer. Noch einmal ins Bad. Und schließlich den Flur hinunter. Bis zur Eingangstür. Dieser Gang durch meine Wohnung nahm eine gute Stunde in Anspruch. Reine Wegzeit. Heute ist Sonntag. Und ich stehe vor meinem Haus. Ich möchte wissen, ob ich ihm das, was im Innern geschieht (die Ausdehnung der Räume), von außen ansehen kann. Ob das Haus verzerrt aussieht. Oder sich Ausstülpungen zeigen. Aber es scheint wie immer. Ich überlege, jemanden im Haus anzusprechen. Mich beschäftigt die Frage, ob bei anderen Ähnliches geschieht. Ich bin mir jedoch unschlüssig, wie ich das Gespräch darauf lenken soll. Auf die Tatsache, dass bei mir alles in weiter Ferne liegt. Sich die Wege verlängern. Jeden Tag mehr. Deshalb lausche ich zunächst. Auf die Schritte in der Wohnung über mir. Ob ich von ihnen etwas ableiten kann. Vielleicht ist da eine andere Intensität. Oder Dauer. Die mir einen Hinweis gibt. Ich höre aber nichts. In dieser Richtung. Ich sehe mir die Nachbarn an. Wenn sie das Haus verlassen. Ob ich eine Veränderung wahrnehme. An ihrem Gang. Ob sie müder wirken. Durch die Anstrengungen. Der Entfernung. Aber es bleibt dabei. Es bleibt bei mir. Das Ferne. Alles rückt noch weiter ab. Und ich gehe weiter. Tag für Tag. Aber ein Tag wird kommen. So wird es kommen. Ein Tag, an dem die Ferne naht.   

Montag, 24. April 2017

Steintafel



Das Gebäude, das ich nahezu täglich aufsuche, ist ein Hochhaus. Es besteht aus einhundertdrei (103) Etagen. Dementsprechend lang benötigt der Aufzug. Denn der Ort, den ich aufsuche, liegt im obersten Stockwerk. Ich komme schon seit langem hierher. Es sind viele Jahre. Dennoch ist mir im Aufzug nie jemand begegnet. Ich fahre immer allein. Und verfolge auf dem Display, wie sich die Zahlen ändern. Vom einstelligen in den zweistelligen in den dreistelligen Bereich. Das ist der Bereich, wo ich den Aufzug wieder verlasse. Gegenüber des Aufzugs ist eine Glastür. Ich öffne sie. Mit meinem Fingerabdruck. Dann folge ich einem langen Gang. Und laufe auf einen Tisch zu. Hier gibt es einen Ablagekorb. Der mit meinem Namen beschriftet ist. Es liegt wieder ein Umschlag darin. Wie jedes Mal. Ich nehme ihn heraus. Und spüre das Wattierte des Umschlags. Und auch das Schwere darin. Ich lege den Umschlag in meinen Aktenkoffer. Gehe den Gang zurück. Öffne die Glastür. Und steige in den Aufzug. Ich habe in all den Jahren hier im Gebäude noch nie jemanden gesehen. Weder auf Etage einhundertdrei (103). Noch unten. In der Lobby. Heute tue ich etwas, was ich noch nie getan habe. Ich drücke einen anderen Knopf. Den einer unbekannten Etage. Der Aufzug hält. Auf der zweiundsiebzigsten (72.) Etage. Und ich steige aus. Hier ist alles genauso, wie auf Etage einhundertdrei (103). Auch die Glastür lässt sich öffnen. Mit meinem Fingerabdruck. Ich folge dem Gang. Und gehe zu dem Tisch. Mit dem Ablagekorb. Der mit meinem Namen beschriftet ist. Und ich nehme den wattierten Umschlag heraus. Mit etwas Schwerem darin. Auch diesen Umschlag verstaue ich in meinem Aktenkoffer. Ich gehe zurück. Und fahre in die achtunddreißigste (38.) Etage. Und auch hier wiederholt es sich: Die Tür. Der Gang. Der Tisch. Der Ablagekorb. Ich fahre nach unten. In die Lobby. Und habe jetzt drei Umschläge in meinem Aktenkoffer. Später lege ich die drei Umschläge auf meinen Arbeitstisch. Und sehe sie mir lange an.  Dann öffne ich den ersten. Und nehme etwas Schweres heraus.  Es ist eine Steintafel. Sie trägt eine Nummer: Einhundertdrei (103). Mein ganzes Haus besteht aus Tafeln mit ebendieser Nummer. Einhundertdrei (103). Schicht. Für Schicht.  Sie ist die einzige Zahl, die ich kenne. Anerkenne. Und jetzt öffne ich die beiden anderen Umschläge. Vor mir liegt die Zweiundsiebzig (72). Und die Achtunddreißig (38).  Ich nehme die beiden Steintafeln. Gehe auf das Dach. Meines Hauses. Und werfe sie hinunter. Auf den Asphalt. Der Straße. Auf der auch nie jemand ist. Die Tafeln zerspringen. In viele Teile. Eigentlich müsste ich die Scherben aufsammeln. Aber hier ist niemand, der sich verletzen könnte. Ich nehme meine leere Aktentasche. Und gehe zurück. Zu dem Hochhaus. Jeden Tag fahre ich von nun an in eine andere Etage. Und nehme einen Umschlag. Mit einer Tafel. Darin. Jeden Tag ist die Nummer eine andere. Und immer werfe ich sie dann hinunter. Von dem Dach. Meines Hauses. Auf den Asphalt. Der Straße. Die jetzt selbst immer mehr zu einer Steintafel wird. Einer großen. Und auf der Tage später eine Zahl erscheint. Die ich nicht zuordnen kann. So rechne ich. Mehrere Tage lang. Und dann komme ich zu einem Ergebnis. Was sich dort zeigt (auf der Steintafel) ist die Quersumme aller Zahlen, die ich auf die Straße warf. So geht alles auf. In dieser steinigen Zahl. Die sich mir jetzt zeigt. Als Ergebnis.     

Sonntag, 23. April 2017

Bedeutung



Plötzlich tauchen Wörter auf. Ganze Sätze. Es sind Aussagen. Manchmal auch Fragen. Den Unterschied erkenne ich. An der Intonation. Alles andere ist mir verstellt. Denn ich verstehe sie nicht. Die Sätze. Obwohl alles in der Sprache formuliert ist, die ich seit jeher spreche. Die Sätze sind klar gebaut. Nach dem mir bekannten Schema. Ich höre sie. Ich durchdenke sie. Und dann vergesse ich sie. Wieder. Weil ich sie nicht greifen kann. Nicht füllen kann. Mit einer Bedeutung. Ich muss also anders vorgehen. Wenn ich mich wieder unterhalten möchte. Ich muss einen anderen Zugang finden. Um die Bedeutung zu entschlüsseln. So nehme ich ein Gerät mit. Das das Gesagte aufnimmt. Ich setze mich in ein Café. Und richte das Mikrofon auf den Nachbartisch. Wo man sich unterhält. Zu zweit. Das Café ist fast leer. Um diese Zeit. Und man spielt auch keine Musik. Im Raum. Sodass die Sprache sehr klar sein wird. Auf meinem Band. Und während es läuft, blättere ich (wie beiläufig) in einer Zeitung. Dabei bin ich ganz in den Worten. Des Nachbartischs. Und versuche, sie zuzuspitzen. Auf eine Bedeutung. Aber es gelingt mir nicht. Ich schneide alles mit. Eine halbe Stunde lang. Dann verstaue ich das Gerät. In meiner Tasche. Ich zahle. Und verlasse das Café. Zu Hause höre ich mir das Band an. Wieder. Und wieder. Ich übertrage die Sätze. Die ich höre. Wort für Wort. In geschriebene Sprache. Ich sehe sie durch. Zeile für Zeile. Und versuche, ein System zu finden. Aber noch immer gewinnt nichts an Bedeutung. Dann, beim Zurückspulen des Bands, rückt etwas näher. Es rückt heraus. Aus dem Band. Und stellt sich mir vor. Als eine Möglichkeit. Des Vorgehens. In einem Vorgang. Der ein neuer Zugang ist. Denn die Richtung ist anders: Ich lasse das Band rückwärts laufen. Und schon spricht es. Klar.     

Samstag, 22. April 2017

Diamond Dust Shoes



Das Diamantige daran hat mich nie interessiert. Von Beginn an. Es war der Staub. Immer der Staub. Der mich reizte. Und anzog. Der mich die Schuhe tragen  ließ. Bis sie zerfielen. Wieder zu Staub. Die Schuhe waren weiß. Und bestanden aus Diamantenstaub. Was sie zusammenhielt und mir zu Schuhen machte, entzog sich mir. Vielleicht war es mein Fuß. Vielleicht mein Gang. Damals. Ich glaube auch, dass sie es mochten, wenn ich tanzte. Sie schmiegten sich dann noch enger an meinen Fuß. Das Besondere an ihnen war der Staub. Aus dem sie waren. Und den sie hinterließen. Überall. Der Staub war unermesslich. Scheinbar unendlich. Als wäre da eine Quelle, die niemals versiegte. Ich aber kannte sie nicht. Der Staub hinterließ eine Spur. Überall. Wo ich lief. Und ich konnte sehen, wo ich einstmals ging. Auch Jahre später noch. Denn der Staub blieb. Und ich glaube, er war nur für wenige sichtbar. Einige folgten der Spur. Das waren oft Tiere. Mit denen ich dann zusammentraf. Auf einer Parkbank. Oder in einem Café. Wo sie sich zu mir setzten. Und wir miteinander sprachen. Ganz ruhig. Über das Sein. An sich. Und andere Fragen. Die Menschen hingegen blieben auf Abstand. Sie waren zögerlich. Weil sie nicht verstanden, warum sie der Spur folgten. Sie erwarteten Erklärungen. Von mir. Die ich nicht gab. Weil ich es nicht konnte. Irgendwann sah ich genauer hin. Auf meine Füße. Denn da war ja etwas. In den Schuhen. Es waren Diamanten. Roh. Und ungeschliffen. Und sie staubten. Wenn ich ging.