Ich befinde mich in einem Raum, der aus
zahllosen Nischen besteht. Und in jeder einzelnen ist etwas. Das spüre ich. Das
Licht hier ist gedimmt. Sodass die Nischen nicht richtig ausgeleuchtet sind. So
habe ich, während ich an ihnen vorbeiziehe, nur eine Ahnung. Es ist noch nicht
der richtige Zeitpunkt, um alles näher in Augenschein zu nehmen. Denn ich
möchte mir erst einen Überblick über die Ausmaße des Raums verschaffen.
Zurückgehen kann ich später. Zurückgehen kann ich nicht. Aber dahin komme ich erst
später. Denn ich bewege mich vorerst (bevor dies geschieht) noch viele
Kilometer durch den Raum. Und noch immer ist sein Ende, markiert durch eine
Abschlusswand oder Tür, nicht in Sicht. So gehe ich weiter. Und passiere zügig
die zahllosen Nischen. Weil mich mehr und mehr eine Ahnung beschleicht: Ich
habe es hier mit einem atypischen Raum zu tun. Der immer wieder Wände einzieht.
Hinter mir. Um sich nach vorne unendlich zu öffnen. Nach einer weiteren Stunde
merke ich, dass meine Kräfte allmählich nachlassen. Und ich auch so etwas wie
Unmut verspüre. Ich möchte nicht weiter auf ein Ziel zulaufen, das sich mir
vermutlich nie zeigt. Und so bleibe ich stehen. Und drehe mich nach links. Die
Nische ist jetzt direkt vor mir. Und langsam gehe ich auf sie zu. Und betrete
sie. Ich habe nicht damit gerechnet, dass auch hier Wände hinter mir wachsen.
Aber genau das geschieht. Und so stehe ich in der Nische. Und der Weg in den
Gang, den Raumgang, ist mir versperrt. Sofort denke ich an eine ausweglose Gefangenschaft
in dieser Zelle. Und nichts anderes ist die Nische jetzt für mich. Ich suche
die Wände ab. Ich suche sie ab nach Zeichen von Durchlässen, Öffnungen, Licht oder
Luft. Aber da ist nichts. Ich lehne mich an eine Wand. Um mich ein wenig
auszuruhen. Und meine Gedanken zu ordnen. Ich führe jetzt ein Nischendasein. Geht
es mir durch den Kopf. Und ich versuche, anders zu denken: Wenn die Wände
hinter mir herabfallen, während ich vorwärts gehe – so öffnen sie sich doch vielleicht,
wenn ich rückwärts gehe. Und so geschieht es.
Dienstag, 27. Dezember 2016
Samstag, 24. Dezember 2016
Auf den Wassern
Ich habe die Seen, Meere und Flüsse nicht
gezählt. Weltumspannend. Ich behaupte jedoch, sie alle besucht zu haben.
Aufgesucht zu haben. Denn ich war auf der Suche. Nach einer Oberfläche. Es ging
mir gar nicht so sehr um das Darunter. Um dieses Wässrige. Liquide. Ich wusste
ja, wie es sich anfühlt, dort hinein zu gehen. Ins Wasser. Und einzutauchen. Was
mich vielmehr interessierte, war die Oberfläche. Die ja jedes Mal zu
durchbrechen oder zu überwinden war. Nur wahrgenommen hatte ich sie nie. Jetzt wollte ich mehr wissen. Über jene Oberfläche. Des Wassers. Aller Gewässer. Erdweit.
Ich habe gelernt, mit meiner Hand darüber zu
streichen. Selbst dann, wenn das Wasser sich kräuselt. Oder Wellen schlägt. Meine Hand berührt stets diese obere Schicht. Die Oberfläche. Und
damit bleibt die Hand auch immer auf dem Wasser. Sie ist nie in ihm. Oder
darunter.
Meine Augen können das auch. Sie suchen ab.
Sie tasten ab. Sie gleiten darüber. Und manchmal fangen sie etwas ein. Ich besitze
schon eine ganze Sammlung von Fundstücken. In Vitrinen. Ich habe mir eine Systematik
überlegt. Die Gliederung ist alphabetisch. Sie folgt den Namen der Gewässer. Auf
denen ich die Fundstücke fand. Mit meinen Augen. Da ich mit meinen Augen nichts
herausziehen oder herausnehmen kann, sind das, was sich in den Vitrinen
befindet, Bilder. Abbilder. Fotokopien meiner optischen Funde. Das heißt: All
das, was sich auf den Bildern zeigt, treibt noch immer in oder auf den
Gewässern herum. Oder ist zwischenzeitlich angespült worden. Als Treibgut. Oder
auf den Grund gesunken.
Was ich auch gelernt habe: Mit meinen Füßen
auf den Wassern zu gehen. Das gelingt mir immer dann, wenn ich die
Oberflächenspannung spüre. Es sind andere Reisen, Fußreisen auf Wasserwegen,
die ich seither mache: Ich bin über den Atlantik gegangen. Während es noch
schneite. Ich habe den Ärmelkanal passiert. An einem Wochenende im Mai. Ich bin
nach Grönland gewandert. Im Herbst.
Als das Eis kam, sank ich ein.
Freitag, 23. Dezember 2016
Wartesaal
Ich suche einen Ort. Einen Platz. Wo ich
mich aufhalten kann. Weil sich das, worauf ich warte, verspätet. Die Tafel in
der Vorhalle kündigt vier Stunden an. Ich werde warten. Und so gehe ich auf das
hölzerne Portal des Wartesaals zu. Drücke die Messingklinke hinunter. Und öffne
langsam die Tür. Der hohe Raum, den ich nun betrete, erinnert mich an eine
Kirche. Es gibt farbige Fenster. Und in Reihen aufgestellte Holzbänke. Auch
ohne Kerzen haftet diesem Ort etwas Feierliches an. Die Bänke sind fast alle
belegt. In der dritten Reihe finde ich Platz. Ganz außen am Gang. Ich verstaue
meinen Koffer unter der Bank. Und nehme einen Schluck Wasser. Ich blättere in
dem Buch, das ich mitgebracht habe. Dann wende ich mich wieder dem Innenraum
zu. Und betrachte die Menschen, die sich hier aufhalten. Einige wirken so, als
säßen sie schon eine ganze Weile hier. Tage. Oder sogar Wochen. Mir fällt auf,
dass keiner der hier Wartenden ein Gepäckstück bei sich hat. Worüber ich mich
wundere. Denn dies ist ein Abfahrtsort. In alle Teile des Landes. Und darüber
hinaus. Ich beginne, über den Wartesaal nachzudenken. Vielleicht hat es mit
diesem Saal und den hier Wartenden noch etwas
anderes auf sich. Ich drehe mich um. Und wende mich dem Mann schräg hinter mir
zu. Er trägt einen Hut, hat ein Stofftaschentuch vor sich ausgebreitet und
schält eine Orange. „Worauf warten Sie?“, frage ich ihn. Er schaut hoch. Er
schaut mich an. „Dass jemand kommt. Und mir diese Frage stellt.“
Dienstag, 20. Dezember 2016
Planet _ zwo
Schon seit längerem beobachte ich alles, was
außerhalb meines Gehäuses geschieht. Und mit Gehäuse meine ich das Bauwerk, das
ich mir auf der Anhöhe errichtet habe. Von weitem gleicht es einem
überdimensionalen Ballon. Der weiß ist. Und dessen Außenhaut die Struktur von Facettenaugen
hat. Ich nenne es Gehäuse, weil es rund ist. Mich umschließt. Und ich mich hier
geborgen fühle. Anfangs bin ich nahezu täglich aus dem Tal (wo mein Haus steht)
hier hoch gestiegen. Auf die Anhöhe. Um meine Beobachtungen zu machen. Mittlerweile
wohne ich hier. Ich habe mich eingerichtet. Spartanisch. Ich brauche nicht
viel. Denn mein Augenmerk liegt anderswo: Mich interessieren Himmelskörper. Ich
habe ein Teleskop. Aber das ist eher Tarnung. Eigentlich ist es das
Gehäuse selbst, das sieht. Ich erwähnte die Facettenaugen. Ich habe sie so
ausgerichtet, dass ich damit den ganzen Himmel absuchen kann. Mit dem Gehäuse und
durch das Gehäuse sehe ich genauer, tiefer und schärfer als durch jedes Teleskop.
Es reicht also, wenn ich mich nah genug an die Innenhaut (die ja gleichzeitig
die Außenhaut ist) stelle. Ich fertige Aufzeichnungen an. Präzise
Aufzeichnungen. Und meistens mache ich meine Beobachtungen die ganze Nacht
hindurch. Ich schlafe am Tag. Wenn überhaupt. Ich habe mir das Schlafen
abgewöhnt. Die meiste Zeit bin ich also wach. Heute habe ich etwas Außergewöhnliches
gesehen. Es ist ein Planet. Den ich noch nie zuvor sah. Und der auch nirgends
verzeichnet ist. Ich werde ihm einen Namen geben. Und ich werde nach einer
Möglichkeit suchen, dorthin zu gelangen. Das wird mir (ich weiß es) mit Hilfe der
Facettenaugen gelingen. Ich werde eine Brechung erzeugen. Die so etwas sein wird
wie Lichtgeschwindigkeit. Nur anders. Und es ist mir tatsächlich gelungen. Ich bin
da. Auf dem Planeten. Und ich bin hier umgeben von zersprungenen Bildern. Es
müssen reflektierte Impressionen der Erde sein. Und auf einem dieser Bilder
erkenne ich auch das Gehäuse. Sein Inneres ist jetzt nach Außen gestülpt. Und nun
begreife ich. Die Zeit.
Samstag, 17. Dezember 2016
Uhr
Das Instrument, dieses Messinstrument, ist nicht
mehr auffindbar. Nirgends. Als ich aufwachte, stand die Sonne bereits sehr
hoch. Und ich hatte ein Treffen verpasst. Dass es allen so ging und keiner mehr
die Zeit kannte, erfuhr ich erst später. Der Wecker, der auf einer Holzleiter
neben meinem Bett stand, war jetzt zeitlos. Leer. Denn als ich ihn in die Hand
nahm, blickte ich in ein weißes Gehäuse. Es gab kein Zifferblatt. Keine Zeiger.
Ich lief in meiner Wohnung umher. Und suchte meine Armbanduhr. Vergebens. Ich
fuhr meinen Rechner hoch. Auch dort keine Uhrzeit mehr. Und als ich in die
Suchmaschine „Aktuelle Uhrzeit“ und dann „Uhr“ eingab, ergab beides null
Treffer. Ich verließ das Haus. Zwei Straßen weiter blieb ich an der Kirche
stehen. Der Turm war nackt. Entuhrt. Ich fuhr zum Bahnhof. Einem jener Orte, wo
die Zeit das bindende Element ist. Und sich Menschen und Züge synchron an einem
Gleis einfinden. Fortan käme man auf gut Glück hierher. Wahrscheinlich würde man
warten müssen. Ohne zu wissen wie lang. Die Zeit (das erfuhren wir später)
hatte sich eingeholt. Und war dann in sich selbst gegangen.
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