Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Mittwoch, 28. September 2016

Typoskript



Ich habe jetzt immer ein Blatt bei mir. Ein leeres. Weißes. Ich stecke es morgens in die linke Tasche meines Jacketts. Bevor ich es einstecke, falte ich es. Zweimal. Kante auf Kante. Wenn ich das Blatt abends wieder herausnehme, steht etwas darauf. Es ist bedruckt. Beidseitig. Manchmal halte ich mein Ohr ins Futter der Jacke. Und lausche. Ich höre die mechanischen Geräusche der Walzen. Und es riecht nach Druckerschwärze. Dann ist es wieder ganz still. Im Jackett. Am Abend nehme ich das Blatt heraus. Und lege es in eine Mappe. Heute sind es die Seiten dreizehn und vierzehn. Nachdem ich den Text gelesen habe, wird das Blatt wieder weiß. Ich kann es aber trotzdem lesen. Wieder. Und wieder. Das Weiß täuscht nämlich. Es lenkt ab. Denn in Wirklichkeit ist die Schrift noch dahinter. Wenn ich das Blatt in die Hand nehme, öffnet sich das Weiß. Wie ein Vorhang. Und die Schrift ist jetzt Fleisch geworden. Denn ich sehe Menschen. Die sich bewegen. Und ich höre sie sprechen. Ich bin auf Seite vierzehn. In Seite vierzehn. Und ich sehe, wie jemand in einem Buch blättert. Und laut liest. Es ist die Seite vierzehn. Die ich ja kenne. Ich nehme ihm das Buch aus der Hand. Ich schüttele die Buchstaben heraus. Und stecke sie wieder in die linke Tasche meines Jacketts.     

Dienstag, 27. September 2016

Movement



Alle laufen jetzt so. Ich jedoch kann mich so nicht bewegen. Es schmerzt. Schon nach wenigen Metern muss ich wieder anders gehen. Hier im Park bin ich allein. Es ist noch sehr früh. Das ist wohl der Grund, weshalb ich noch keinem Menschen begegnet bin. Doch da kommt jemand hinter der Parkbank hervor. Es ist eine Frau. In einem grünen Anzug. Sie bewegt sich wie ein Insekt. Sie ist ein Vierfüßer. Und krabbelt direkt auf mich zu. Schon höre ich ihre Zischlaute. Ich weiß, was als nächstes passiert: Sie wird mich beißen. In meine Wade. Die Wunde wird sehr stark jucken. Ich werde Hautrötungen bekommen. Alles wird sich entzünden. Ich humple zurück. Durch den Park. Jetzt sind schon mehr Menschen unterwegs. Vierfüßig. Auf der Höhe der Kastanie spricht mich jemand an. Es sind wieder diese Zischlaute, die ich nicht verstehe. Ich zucke mit den Schultern. Und gehe weiter. Seitdem alles vierfüßig geworden ist, setzen Veränderungen ein. Die Höhe der Gebäude. Die Breite der Straßen. Die Geschäfte. Das Haus, in dem ich wohne. Die Möbel darin. Alles schrumpft. Und dann geht etwas mit den Lebensmitteln vor sich. Sie riechen nach Dung. Sie schmecken vergoren. Sie sind ungenießbar für mich. Auch scheint sich der Himmel zu senken. Seit dem Nachmittag ist mein Kopf über den Wolken. Während ich durch die schmalen Straßen gehe. Die Luft ist sehr dünn hier. Zwischendurch stoße ich an etwas. Da unten. Auf dem Weg. Das werden Vierfüßer sein. Oder etwas ganz Anderes.

Samstag, 24. September 2016

In den Manegen


Das Zelt war von innen viel weitläufiger, als es von außen den Anschein machte. Ich hatte mit einem Zirkuszelt gerechnet, wie ich es von kleinen Wanderzirkussen kenne, die in Dörfern gastieren. Aber der Innenraum hier war ganz anders. Ich zählte fünf Manegen. Die auf unterschiedlichen Ebenen angeordnet waren, ohne sich zu berühren. Die Vorstellung war als Zirkusprogramm angekündigt. So erwartete ich Stroh in den Manegen. Zumindest in einer. Ich hoffte, Elefanten zu sehen. Tiger. Pferde. Und vielleicht auch Affen. Aber ohne Stroh auf dem Boden schien mir das unwahrscheinlich. Die Zuschauerlogen in dem Zelt waren steile Ränge. Ich schaute auf meine Eintrittskarte: Platz 332. Er befand sich in der dritten Reihe. Direkt am Gang. Ich setzte mich. Das Licht im Zelt war rötlich und verströmte eine warme Atmosphäre. Die Vorstellung sollte um 18 Uhr beginnen. Jetzt war es zehn vor sechs. Ich wurde ein wenig unruhig. Denn bisher gab es keine weiteren Zuschauer. So saß ich allein im Zelt. Auf meinem Platz 332, als pünktlich um 18 Uhr die Vorstellung begann. In der ersten Manege tauchte nun der Zirkusdirektor auf. In Weste. Und Zylinder. Und als er näher kam und mich begrüßte, bemerkte ich, dass es eine Frau war. „Willkommen in der Vorstellung“, begrüßte sie mich. „Heute Abend geht alles um Ihre Vorstellung. Es ist Ihre Vorstellung.“ Und so bat sie mich, meine Augen zu schließen und mir eine Blume vorzustellen. Als ich meine Augen wieder öffnete, wuchs genau diese Blume in der zweiten Manege. Und die Zirkusdirektorin pflückte die Blume und überreichte sie mir. Das war das erste Mal, dass ich eine Vorstellung in Händen hielt. Als nächstes sollte ich mir eine Landschaft vorstellen. Die dann in der dritten Manege zu sehen war: Ein felsiges Gelände. Mit Flechten und Moosen. Das Gestein ganz hell. Und es gab einen Wasserfall. Die Direktorin lud mich ein, in die Manege zu kommen. Und fragte mich, was ich tun wollte. In dieser Landschaft. „Ich möchte durch den Wasserfall gehen“, sagte ich. „Hinter den Wasserfall.“ Und sie nickte mir zu. Als ich durch den Wasserfall ging, war nichts dahinter. Mit nichts meine ich, dass dort ein Weiß war, ein so strahlendes Weiß, das alles in sich aufnahm, alles in sich verschluckte, sodass nichts mehr war. Ich ging zurück. Durch den Wasserfall. In die Manege. Die Zirkusdirektorin erwartete mich schon. Jetzt bat sie mich, mir vorzustellen, was hinter dem Wasserfall ist. Sogleich stand ich in einer Felsenkathedrale mit einer reich gedeckten Tafel. Ich setzte mich. Aß und trank köstliche Speisen und Getränke. Dann ging ich gestärkt zurück. In das Zelt. Und setzte mich wieder auf meinen Platz. 332. Die Direktorin stand jetzt in der vierten Manege. Sie forderte mich auf, mir das Innere ihres Kopfes vorzustellen. Das Innere ihres Kopfes war ein engmaschiges Netz. Das klang. Und es gingen Lichtimpulse durch einzelne Stränge, die ich mit bloßem Auge verfolgen konnte. Ich sah, wie sich einzelne Bahnen und Knotenpunkte neu miteinander verbanden. Und wie sich das Netz an einigen Stellen weiter verdichtete. „Schaffen Sie Raum in meinem Kopf“, bat sie mich. Ich nahm einen Kamm. Und kämmte das Netz. Das ganze Geflecht. Um alles noch enger und dichter zusammenzuschieben (wie auf einem Webrahmen), sodass Platz entstand. Auf der fünften Ebene sollte ich mir mich selbst vorstellen. Zuerst mein Außen. Und da all dies in meiner Vorstellung geschah und ich mich auch nur auf mein Vorstellungsvermögen, auf meine Erinnerung, auf diese tausend und abertausend Spiegelblicke (meiner selbst) verlassen konnte und darauf zurückgriff, war das, was ich sah, anders. Anders als ich. Meine Gesichtsform wich ab. Die Frisur wich ab. Die Länge meiner Beine. Die Breite meiner Schultern. Die Nase. Mein Augenausdruck. Als nächstes sollte ich mir mein Inneres vorstellen. Ich sah das Netz.  In meinem Kopf. Und auch hier schaffte ich mehr Raum. Mit dem Kamm. Platz für die sechste Manege. In meinem Kopf. Sodass ich umherziehe. Seither. Mit meinem Wanderzirkus. Von Ort zu Ort.

Sonntag, 18. September 2016

Kreis



Im Kreis gehen. Im Kreis denken. Eine immer wiederkehrende Bewegung. Die durch ihr Rund erträglich ist. Schwieriger und auch schmerzhafter ist es, in einem Quadrat zu denken. Oder in einem Dreieck. Geschweige denn in einem Oktogon. Das Anecken führt zu vielen Blessuren. Das Anstoßen auch. Der Kreis hingegen ist eine unverfängliche Form. Zunächst. Es dauert eine ganze Weile, in seinem Rund das ewig Kreisende zu erspüren. Irgendwann jedoch stellt sich Schwindel ein. Und Kopfschmerz. Und möglicherweise sogar Übelkeit. So gewinnt der Kreis an Kontur. Und er zeigt sich. Mehr. So offenbart der Kreis jetzt mit seinem schneidenden S am Wortende schon etwas mehr von der Schärfe, die ihm innewohnt. Die ersten vier Lettern erinnern an kreischen. An ein Karussell denken, das sich immer schneller dreht. Im Kreis. Und auch da (im Karussell sitzend) irgendwann das Gefühl, dieses Drehen nicht mehr auszuhalten. Aussteigen wollen. Aber Angst haben, vorher herausgeschleudert zu werden. Vielleicht wehrt sich der Kreis. Gegen das Aussteigen. Auch das kann der Kreis. Wenn er sich dreht. Wie eine Trommel. Der Kreis bietet kaum Zugang. Weil er eine geschlossene Form ist. Es ist schwer, einen Eingang zu finden. Einmal im Kreis, ist es noch schwerer, den Ausgang zu finden. Wo ist oben? Wo unten? Die Verhältnisse verschieben sich. Kein Punkt ist klar. Im Kreis. Es mag einen Mittelpunkt geben. Er ist mit bloßem Auge nicht zu bestimmen. Dazu bedarf es Instrumente. Es ist stets eine Frage des Innen. Und des Außen. Wenn es um den Kreis geht. Der Kreis reizt. Es wird Leere vermutet. In ihm. Man weiß um die Leere. In ihm. Dennoch besteht Sehnsucht oder gar Hoffnung, er könne gefüllt sein. Was sich aber nie zeigt. Was sich zeigt, ist ein Kreis.   

Freitag, 16. September 2016

Auf der Landstraße



Ich hatte mich länger in dem Dorf aufgehalten. Das sich dadurch auszeichnete, genau in der Mitte des Landes zu liegen. Ich hatte die Tage dort nicht gezählt. Weil es mir unwichtig erschien. Und mich niemand (weder ich selbst noch Andere) dazu anhielt. So konnten es mehrere Monate oder aber auch Jahre gewesen sein, die ich an diesem Ort verbracht hatte. Ich war bei meiner Ankunft von Norden her in das Dorf gekommen. Und ich beschloss, es in südliche Richtung wieder zu verlassen. Am Rande des Dorfes begann eine Landstraße. Ich hatte keine Hinweise, und ich erhielt auch keine Hinweise, wohin mich diese Straße eigentlich führte. Und so ging ich. Die Straße war leer. Menschenleer. Und mir begegneten auch keine Fahrzeuge. Rechts und links der Landstraße verlief eine Graslandschaft, die sich an beiden Seiten der Straße bis zum Horizont zog. Und auf diesen Rasenflächen war nichts zu sehen. Keine Blumen. Keine Sträucher. Kein Zaun. Nicht einmal Tiere. Und was mir dann auffiel: Diese riesigen, weitläufigen Flächen waren gemäht. Frisch gemäht. Das Gras oder Heu war entfernt worden. Die Rasenflächen waren außerordentlich gepflegt. Und ich überlegte, wie viel Mühe und Arbeit die Pflege dieser Flächen wohl in Anspruch nahm. Ich fragte mich, wer diese Flächen nutzte. Und wem sie gehörten. Ich dachte, dass Kühe oder Schafe hier gut hinpassen würden. Und bestimmt auch sehr nützlich wären. Aber auch sie sah ich nicht. Denn alles war leer. Und so führte mich die Landstraße weiter durch das Grasland. Das Rasenland. Und ich ging. Und ging. Bis plötzlich ein Gebäude vor mir auftauchte. Es hatte unvorstellbare Ausmaße. Als ich direkt vor ihm stand, erfasste ich mit meinem Blick nur einen Eckstein des Gebäudes. Und dieser Stein war ganz grobporig. Ich suchte nach einer anderen Perspektive. Und schaltete den Zoom aus. Das Gebäude erschien sogleich kleiner. Wohlproportioniert lag es nun vor mir. Eingebettet in eine  Rasenlandschaft. Sehr stimmig, dachte ich. Nur, dass ich selbst jetzt nicht mehr hineinpasste.