Ich habe jetzt immer ein Blatt bei mir. Ein
leeres. Weißes. Ich stecke es morgens in die linke Tasche meines Jacketts. Bevor
ich es einstecke, falte ich es. Zweimal. Kante auf Kante. Wenn ich das Blatt
abends wieder herausnehme, steht etwas darauf. Es ist bedruckt. Beidseitig. Manchmal
halte ich mein Ohr ins Futter der Jacke. Und lausche. Ich höre die mechanischen
Geräusche der Walzen. Und es riecht nach Druckerschwärze. Dann ist es wieder
ganz still. Im Jackett. Am Abend nehme ich das Blatt heraus. Und lege es in eine
Mappe. Heute sind es die Seiten dreizehn und vierzehn. Nachdem ich den Text
gelesen habe, wird das Blatt wieder weiß. Ich kann es aber trotzdem lesen. Wieder.
Und wieder. Das Weiß täuscht nämlich. Es lenkt ab. Denn in Wirklichkeit ist die
Schrift noch dahinter. Wenn ich das Blatt in die Hand nehme, öffnet sich das
Weiß. Wie ein Vorhang. Und die Schrift ist jetzt Fleisch geworden. Denn ich
sehe Menschen. Die sich bewegen. Und ich höre sie sprechen. Ich bin auf Seite
vierzehn. In Seite vierzehn. Und ich sehe, wie jemand in einem Buch blättert.
Und laut liest. Es ist die Seite vierzehn. Die ich ja kenne. Ich nehme ihm das
Buch aus der Hand. Ich schüttele die Buchstaben heraus. Und stecke sie wieder in
die linke Tasche meines Jacketts.
Mittwoch, 28. September 2016
Dienstag, 27. September 2016
Movement
Alle laufen jetzt so. Ich jedoch kann mich so
nicht bewegen. Es schmerzt. Schon nach wenigen Metern muss ich wieder anders
gehen. Hier im Park bin ich allein. Es ist noch sehr früh. Das ist wohl der
Grund, weshalb ich noch keinem Menschen begegnet bin. Doch da kommt jemand
hinter der Parkbank hervor. Es ist eine Frau. In einem grünen Anzug. Sie bewegt
sich wie ein Insekt. Sie ist ein Vierfüßer. Und krabbelt direkt auf mich zu. Schon
höre ich ihre Zischlaute. Ich weiß, was als nächstes passiert: Sie wird mich
beißen. In meine Wade. Die Wunde wird sehr stark jucken. Ich werde Hautrötungen
bekommen. Alles wird sich entzünden. Ich humple zurück. Durch den Park. Jetzt
sind schon mehr Menschen unterwegs. Vierfüßig. Auf der Höhe der Kastanie
spricht mich jemand an. Es sind wieder diese Zischlaute, die ich nicht
verstehe. Ich zucke mit den Schultern. Und gehe weiter. Seitdem alles vierfüßig
geworden ist, setzen Veränderungen ein. Die Höhe der Gebäude. Die Breite der Straßen.
Die Geschäfte. Das Haus, in dem ich wohne. Die Möbel darin. Alles schrumpft.
Und dann geht etwas mit den Lebensmitteln vor sich. Sie riechen nach Dung. Sie
schmecken vergoren. Sie sind ungenießbar für mich. Auch scheint sich der Himmel
zu senken. Seit dem Nachmittag ist mein Kopf über den Wolken. Während ich durch
die schmalen Straßen gehe. Die Luft ist sehr dünn hier. Zwischendurch stoße ich
an etwas. Da unten. Auf dem Weg. Das werden Vierfüßer sein. Oder etwas ganz Anderes.
Samstag, 24. September 2016
In den Manegen
Das Zelt war von innen viel weitläufiger,
als es von außen den Anschein machte. Ich hatte mit einem Zirkuszelt gerechnet,
wie ich es von kleinen Wanderzirkussen kenne, die in Dörfern gastieren. Aber
der Innenraum hier war ganz anders. Ich zählte fünf Manegen. Die auf
unterschiedlichen Ebenen angeordnet waren, ohne sich zu berühren. Die
Vorstellung war als Zirkusprogramm angekündigt. So erwartete ich Stroh in den
Manegen. Zumindest in einer. Ich hoffte, Elefanten zu sehen. Tiger. Pferde. Und
vielleicht auch Affen. Aber ohne Stroh auf dem Boden schien mir das unwahrscheinlich.
Die Zuschauerlogen in dem Zelt waren steile Ränge. Ich schaute auf meine
Eintrittskarte: Platz 332. Er befand sich in der dritten Reihe. Direkt am Gang.
Ich setzte mich. Das Licht im Zelt war rötlich und verströmte eine warme
Atmosphäre. Die Vorstellung sollte um 18 Uhr beginnen. Jetzt war es zehn vor
sechs. Ich wurde ein wenig unruhig. Denn bisher gab es keine weiteren Zuschauer.
So saß ich allein im Zelt. Auf meinem Platz 332, als pünktlich um 18 Uhr die
Vorstellung begann. In der ersten Manege tauchte nun der Zirkusdirektor auf. In
Weste. Und Zylinder. Und als er näher kam und mich begrüßte, bemerkte ich, dass
es eine Frau war. „Willkommen in der Vorstellung“, begrüßte sie mich. „Heute
Abend geht alles um Ihre Vorstellung.
Es ist Ihre Vorstellung.“ Und so bat
sie mich, meine Augen zu schließen und mir eine Blume vorzustellen. Als ich
meine Augen wieder öffnete, wuchs genau diese Blume in der zweiten Manege. Und
die Zirkusdirektorin pflückte die Blume und überreichte sie mir. Das war das
erste Mal, dass ich eine Vorstellung in Händen hielt. Als nächstes sollte ich
mir eine Landschaft vorstellen. Die dann in der dritten Manege zu sehen war:
Ein felsiges Gelände. Mit Flechten und Moosen. Das Gestein ganz hell. Und es
gab einen Wasserfall. Die Direktorin lud mich ein, in die Manege zu kommen. Und
fragte mich, was ich tun wollte. In dieser Landschaft. „Ich möchte durch den
Wasserfall gehen“, sagte ich. „Hinter den Wasserfall.“ Und sie nickte mir zu.
Als ich durch den Wasserfall ging, war nichts dahinter. Mit nichts meine ich,
dass dort ein Weiß war, ein so strahlendes Weiß, das alles in sich aufnahm,
alles in sich verschluckte, sodass nichts mehr war. Ich ging zurück. Durch den
Wasserfall. In die Manege. Die Zirkusdirektorin erwartete mich schon. Jetzt bat
sie mich, mir vorzustellen, was hinter dem Wasserfall ist. Sogleich stand ich
in einer Felsenkathedrale mit einer reich gedeckten Tafel. Ich setzte mich. Aß
und trank köstliche Speisen und Getränke. Dann ging ich gestärkt zurück. In das
Zelt. Und setzte mich wieder auf meinen Platz. 332. Die Direktorin stand jetzt
in der vierten Manege. Sie forderte mich auf, mir das Innere ihres Kopfes
vorzustellen. Das Innere ihres Kopfes war ein engmaschiges Netz. Das klang. Und
es gingen Lichtimpulse durch einzelne Stränge, die ich mit bloßem Auge
verfolgen konnte. Ich sah, wie sich einzelne Bahnen und Knotenpunkte neu
miteinander verbanden. Und wie sich das Netz an einigen Stellen weiter
verdichtete. „Schaffen Sie Raum in meinem Kopf“, bat sie mich. Ich nahm einen
Kamm. Und kämmte das Netz. Das ganze Geflecht. Um alles noch enger und dichter
zusammenzuschieben (wie auf einem Webrahmen), sodass Platz entstand. Auf der
fünften Ebene sollte ich mir mich selbst vorstellen. Zuerst mein Außen. Und da
all dies in meiner Vorstellung geschah und ich mich auch nur auf mein
Vorstellungsvermögen, auf meine Erinnerung, auf diese tausend und abertausend
Spiegelblicke (meiner selbst) verlassen konnte und darauf zurückgriff, war das,
was ich sah, anders. Anders als ich. Meine Gesichtsform wich ab. Die Frisur wich
ab. Die Länge meiner Beine. Die Breite meiner Schultern. Die Nase. Mein
Augenausdruck. Als nächstes sollte ich mir mein Inneres vorstellen. Ich sah das
Netz. In meinem Kopf. Und auch hier schaffte
ich mehr Raum. Mit dem Kamm. Platz für die sechste Manege. In meinem Kopf. Sodass
ich umherziehe. Seither. Mit meinem Wanderzirkus. Von Ort zu Ort.
Sonntag, 18. September 2016
Kreis
Im Kreis gehen. Im Kreis denken. Eine immer
wiederkehrende Bewegung. Die durch ihr Rund erträglich ist. Schwieriger und
auch schmerzhafter ist es, in einem Quadrat zu denken. Oder in einem Dreieck. Geschweige
denn in einem Oktogon. Das Anecken führt zu vielen Blessuren. Das Anstoßen
auch. Der Kreis hingegen ist eine unverfängliche Form. Zunächst. Es dauert eine
ganze Weile, in seinem Rund das ewig Kreisende zu erspüren. Irgendwann jedoch
stellt sich Schwindel ein. Und Kopfschmerz. Und möglicherweise sogar Übelkeit. So
gewinnt der Kreis an Kontur. Und er zeigt sich. Mehr. So offenbart der Kreis
jetzt mit seinem schneidenden S am
Wortende schon etwas mehr von der Schärfe, die ihm innewohnt. Die ersten vier Lettern
erinnern an kreischen. An ein Karussell
denken, das sich immer schneller dreht. Im Kreis. Und auch da (im Karussell
sitzend) irgendwann das Gefühl, dieses Drehen nicht mehr auszuhalten. Aussteigen
wollen. Aber Angst haben, vorher herausgeschleudert zu werden. Vielleicht wehrt
sich der Kreis. Gegen das Aussteigen. Auch das kann der Kreis. Wenn er sich
dreht. Wie eine Trommel. Der Kreis bietet kaum Zugang. Weil er eine geschlossene
Form ist. Es ist schwer, einen Eingang zu finden. Einmal im Kreis, ist es noch
schwerer, den Ausgang zu finden. Wo ist oben? Wo unten? Die Verhältnisse
verschieben sich. Kein Punkt ist klar. Im Kreis. Es mag einen Mittelpunkt geben.
Er ist mit bloßem Auge nicht zu bestimmen. Dazu bedarf es Instrumente. Es ist stets
eine Frage des Innen. Und des Außen. Wenn es um den Kreis geht. Der Kreis reizt. Es wird Leere
vermutet. In ihm. Man weiß um die Leere. In ihm. Dennoch besteht Sehnsucht oder
gar Hoffnung, er könne gefüllt sein. Was sich aber nie zeigt. Was sich zeigt,
ist ein Kreis.
Freitag, 16. September 2016
Auf der Landstraße
Ich hatte mich länger in dem Dorf
aufgehalten. Das sich dadurch auszeichnete, genau in der Mitte des Landes zu
liegen. Ich hatte die Tage dort nicht gezählt. Weil es mir unwichtig erschien.
Und mich niemand (weder ich selbst noch Andere) dazu anhielt. So konnten es
mehrere Monate oder aber auch Jahre gewesen sein, die ich an diesem Ort
verbracht hatte. Ich war bei meiner Ankunft von Norden her in das Dorf
gekommen. Und ich beschloss, es in südliche Richtung wieder zu verlassen. Am
Rande des Dorfes begann eine Landstraße. Ich hatte keine Hinweise, und ich
erhielt auch keine Hinweise, wohin mich diese Straße eigentlich führte. Und so
ging ich. Die Straße war leer. Menschenleer. Und mir begegneten auch keine
Fahrzeuge. Rechts und links der Landstraße verlief eine Graslandschaft, die
sich an beiden Seiten der Straße bis zum Horizont zog. Und auf diesen
Rasenflächen war nichts zu sehen. Keine Blumen. Keine Sträucher. Kein Zaun. Nicht
einmal Tiere. Und was mir dann auffiel: Diese riesigen, weitläufigen Flächen
waren gemäht. Frisch gemäht. Das Gras oder Heu war entfernt worden. Die
Rasenflächen waren außerordentlich gepflegt. Und ich überlegte, wie viel Mühe
und Arbeit die Pflege dieser Flächen wohl in Anspruch nahm. Ich fragte mich, wer
diese Flächen nutzte. Und wem sie gehörten. Ich dachte, dass Kühe oder Schafe
hier gut hinpassen würden. Und bestimmt auch sehr nützlich wären. Aber auch sie
sah ich nicht. Denn alles war leer. Und so führte mich die Landstraße weiter durch
das Grasland. Das Rasenland. Und ich ging. Und ging. Bis plötzlich ein Gebäude
vor mir auftauchte. Es hatte unvorstellbare Ausmaße. Als ich direkt vor ihm
stand, erfasste ich mit meinem Blick nur einen Eckstein des Gebäudes. Und
dieser Stein war ganz grobporig. Ich suchte nach einer anderen Perspektive. Und
schaltete den Zoom aus. Das Gebäude erschien sogleich kleiner.
Wohlproportioniert lag es nun vor mir. Eingebettet in eine Rasenlandschaft. Sehr stimmig, dachte ich. Nur,
dass ich selbst jetzt nicht mehr hineinpasste.
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