Orla Wolf

Orla Wolf
zuckerauge: ISSN 2569-9458

Dienstag, 27. Dezember 2016

Nische



Ich befinde mich in einem Raum, der aus zahllosen Nischen besteht. Und in jeder einzelnen ist etwas. Das spüre ich. Das Licht hier ist gedimmt. Sodass die Nischen nicht richtig ausgeleuchtet sind. So habe ich, während ich an ihnen vorbeiziehe, nur eine Ahnung. Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt, um alles näher in Augenschein zu nehmen. Denn ich möchte mir erst einen Überblick über die Ausmaße des Raums verschaffen. Zurückgehen kann ich später. Zurückgehen kann ich nicht. Aber dahin komme ich erst später. Denn ich bewege mich vorerst (bevor dies geschieht) noch viele Kilometer durch den Raum. Und noch immer ist sein Ende, markiert durch eine Abschlusswand oder Tür, nicht in Sicht. So gehe ich weiter. Und passiere zügig die zahllosen Nischen. Weil mich mehr und mehr eine Ahnung beschleicht: Ich habe es hier mit einem atypischen Raum zu tun. Der immer wieder Wände einzieht. Hinter mir. Um sich nach vorne unendlich zu öffnen. Nach einer weiteren Stunde merke ich, dass meine Kräfte allmählich nachlassen. Und ich auch so etwas wie Unmut verspüre. Ich möchte nicht weiter auf ein Ziel zulaufen, das sich mir vermutlich nie zeigt. Und so bleibe ich stehen. Und drehe mich nach links. Die Nische ist jetzt direkt vor mir. Und langsam gehe ich auf sie zu. Und betrete sie. Ich habe nicht damit gerechnet, dass auch hier Wände hinter mir wachsen. Aber genau das geschieht. Und so stehe ich in der Nische. Und der Weg in den Gang, den Raumgang, ist mir versperrt. Sofort denke ich an eine ausweglose Gefangenschaft in dieser Zelle. Und nichts anderes ist die Nische jetzt für mich. Ich suche die Wände ab. Ich suche sie ab nach Zeichen von Durchlässen, Öffnungen, Licht oder Luft. Aber da ist nichts. Ich lehne mich an eine Wand. Um mich ein wenig auszuruhen. Und meine Gedanken zu ordnen. Ich führe jetzt ein Nischendasein. Geht es mir durch den Kopf. Und ich versuche, anders zu denken: Wenn die Wände hinter mir herabfallen, während ich vorwärts gehe – so öffnen sie sich doch vielleicht, wenn ich rückwärts gehe. Und so geschieht es.



Samstag, 24. Dezember 2016

Auf den Wassern



Ich habe die Seen, Meere und Flüsse nicht gezählt. Weltumspannend. Ich behaupte jedoch, sie alle besucht zu haben. Aufgesucht zu haben. Denn ich war auf der Suche. Nach einer Oberfläche. Es ging mir gar nicht so sehr um das Darunter. Um dieses Wässrige. Liquide. Ich wusste ja, wie es sich anfühlt, dort hinein zu gehen. Ins Wasser. Und einzutauchen. Was mich vielmehr interessierte, war die Oberfläche. Die ja jedes Mal zu durchbrechen oder zu überwinden war. Nur wahrgenommen hatte ich sie nie. Jetzt wollte ich mehr wissen. Über jene Oberfläche. Des Wassers. Aller Gewässer. Erdweit.

Ich habe gelernt, mit meiner Hand darüber zu streichen. Selbst dann, wenn das Wasser sich kräuselt. Oder Wellen schlägt. Meine Hand berührt stets diese obere Schicht. Die Oberfläche. Und damit bleibt die Hand auch immer auf dem Wasser. Sie ist nie in ihm. Oder darunter.

Meine Augen können das auch. Sie suchen ab. Sie tasten ab. Sie gleiten darüber. Und manchmal fangen sie etwas ein. Ich besitze schon eine ganze Sammlung von Fundstücken. In Vitrinen. Ich habe mir eine Systematik überlegt. Die Gliederung ist alphabetisch. Sie folgt den Namen der Gewässer. Auf denen ich die Fundstücke fand. Mit meinen Augen. Da ich mit meinen Augen nichts herausziehen oder herausnehmen kann, sind das, was sich in den Vitrinen befindet, Bilder. Abbilder. Fotokopien meiner optischen Funde. Das heißt: All das, was sich auf den Bildern zeigt, treibt noch immer in oder auf den Gewässern herum. Oder ist zwischenzeitlich angespült worden. Als Treibgut. Oder auf den Grund gesunken.

Was ich auch gelernt habe: Mit meinen Füßen auf den Wassern zu gehen. Das gelingt mir immer dann, wenn ich die Oberflächenspannung spüre. Es sind andere Reisen, Fußreisen auf Wasserwegen, die ich seither mache: Ich bin über den Atlantik gegangen. Während es noch schneite. Ich habe den Ärmelkanal passiert. An einem Wochenende im Mai. Ich bin nach Grönland gewandert. Im Herbst.

Als das Eis kam, sank ich ein.

Freitag, 23. Dezember 2016

Wartesaal



Ich suche einen Ort. Einen Platz. Wo ich mich aufhalten kann. Weil sich das, worauf ich warte, verspätet. Die Tafel in der Vorhalle kündigt vier Stunden an. Ich werde warten. Und so gehe ich auf das hölzerne Portal des Wartesaals zu. Drücke die Messingklinke hinunter. Und öffne langsam die Tür. Der hohe Raum, den ich nun betrete, erinnert mich an eine Kirche. Es gibt farbige Fenster. Und in Reihen aufgestellte Holzbänke. Auch ohne Kerzen haftet diesem Ort etwas Feierliches an. Die Bänke sind fast alle belegt. In der dritten Reihe finde ich Platz. Ganz außen am Gang. Ich verstaue meinen Koffer unter der Bank. Und nehme einen Schluck Wasser. Ich blättere in dem Buch, das ich mitgebracht habe. Dann wende ich mich wieder dem Innenraum zu. Und betrachte die Menschen, die sich hier aufhalten. Einige wirken so, als säßen sie schon eine ganze Weile hier. Tage. Oder sogar Wochen. Mir fällt auf, dass keiner der hier Wartenden ein Gepäckstück bei sich hat. Worüber ich mich wundere. Denn dies ist ein Abfahrtsort. In alle Teile des Landes. Und darüber hinaus. Ich beginne, über den Wartesaal nachzudenken. Vielleicht hat es mit diesem Saal  und den hier Wartenden noch etwas anderes auf sich. Ich drehe mich um. Und wende mich dem Mann schräg hinter mir zu. Er trägt einen Hut, hat ein Stofftaschentuch vor sich ausgebreitet und schält eine Orange. „Worauf warten Sie?“, frage ich ihn. Er schaut hoch. Er schaut mich an. „Dass jemand kommt. Und mir diese Frage stellt.“

Dienstag, 20. Dezember 2016

Planet _ zwo



Schon seit längerem beobachte ich alles, was außerhalb meines Gehäuses geschieht. Und mit Gehäuse meine ich das Bauwerk, das ich mir auf der Anhöhe errichtet habe. Von weitem gleicht es einem überdimensionalen Ballon. Der weiß ist. Und dessen Außenhaut die Struktur von Facettenaugen hat. Ich nenne es Gehäuse, weil es rund ist. Mich umschließt. Und ich mich hier geborgen fühle. Anfangs bin ich nahezu täglich aus dem Tal (wo mein Haus steht) hier hoch gestiegen. Auf die Anhöhe. Um meine Beobachtungen zu machen. Mittlerweile wohne ich hier. Ich habe mich eingerichtet. Spartanisch. Ich brauche nicht viel. Denn mein Augenmerk liegt anderswo: Mich interessieren Himmelskörper. Ich habe ein Teleskop. Aber das ist eher Tarnung. Eigentlich ist es das Gehäuse selbst, das sieht. Ich erwähnte die Facettenaugen. Ich habe sie so ausgerichtet, dass ich damit den ganzen Himmel absuchen kann. Mit dem Gehäuse und durch das Gehäuse sehe ich genauer, tiefer und schärfer als durch jedes Teleskop. Es reicht also, wenn ich mich nah genug an die Innenhaut (die ja gleichzeitig die Außenhaut ist) stelle. Ich fertige Aufzeichnungen an. Präzise Aufzeichnungen. Und meistens mache ich meine Beobachtungen die ganze Nacht hindurch. Ich schlafe am Tag. Wenn überhaupt. Ich habe mir das Schlafen abgewöhnt. Die meiste Zeit bin ich also wach. Heute habe ich etwas Außergewöhnliches gesehen. Es ist ein Planet. Den ich noch nie zuvor sah. Und der auch nirgends verzeichnet ist. Ich werde ihm einen Namen geben. Und ich werde nach einer Möglichkeit suchen, dorthin zu gelangen. Das wird mir (ich weiß es) mit Hilfe der Facettenaugen gelingen. Ich werde eine Brechung erzeugen. Die so etwas sein wird wie Lichtgeschwindigkeit. Nur anders. Und es ist mir tatsächlich gelungen. Ich bin da. Auf dem Planeten. Und ich bin hier umgeben von zersprungenen Bildern. Es müssen reflektierte Impressionen der Erde sein. Und auf einem dieser Bilder erkenne ich auch das Gehäuse. Sein Inneres ist jetzt nach Außen gestülpt. Und nun begreife ich. Die Zeit.

Samstag, 17. Dezember 2016

Uhr



Das Instrument, dieses Messinstrument, ist nicht mehr auffindbar. Nirgends. Als ich aufwachte, stand die Sonne bereits sehr hoch. Und ich hatte ein Treffen verpasst. Dass es allen so ging und keiner mehr die Zeit kannte, erfuhr ich erst später. Der Wecker, der auf einer Holzleiter neben meinem Bett stand, war jetzt zeitlos. Leer. Denn als ich ihn in die Hand nahm, blickte ich in ein weißes Gehäuse. Es gab kein Zifferblatt. Keine Zeiger. Ich lief in meiner Wohnung umher. Und suchte meine Armbanduhr. Vergebens. Ich fuhr meinen Rechner hoch. Auch dort keine Uhrzeit mehr. Und als ich in die Suchmaschine „Aktuelle Uhrzeit“ und dann „Uhr“ eingab, ergab beides null Treffer. Ich verließ das Haus. Zwei Straßen weiter blieb ich an der Kirche stehen. Der Turm war nackt. Entuhrt. Ich fuhr zum Bahnhof. Einem jener Orte, wo die Zeit das bindende Element ist. Und sich Menschen und Züge synchron an einem Gleis einfinden. Fortan käme man auf gut Glück hierher. Wahrscheinlich würde man warten müssen. Ohne zu wissen wie lang. Die Zeit (das erfuhren wir später) hatte sich eingeholt. Und war dann in sich selbst gegangen.